Ein Architektengespräch
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Na sowas! Alte Freunde. Die trifft man immer wieder auf der Bahnhofstrasse in Zürich.
--Na wirklich, bist du es, der grosse Star-Architekt unserer Ausbildungszeit? Immer wieder Wettbewerbe gewonnen...
Na komm schon, nicht übertreiben. Wie gehts dir?
--So lala. Bin immer noch im Schock. Zurück aus Indien. Grosses Erdbeben. Doch lassen wir das. Baust wohl viel?
Ja, Zürich ist zum europäischen Zentrum geworden. Lots of pressure. Alle Firmen wollen Sitze hier und die Manager wollen feudale Wohnsitze. Somit viel Arbeit. Vor allem im Kern der Stadt, aber auch ringsum. Gute Zeiten. Aber was hast du gemeint mit deinem Schock?
--Ich war bei Freunden in Gujarat. 20 stöckige Hochhäuser am Rande von Ahmedabad. Recht angenehme Gegend. Aber ziemlich nahe beim Epizentrum. Die Häuser modern, etwa 10, 15 Jahre alt. Plötzlich, um 6 Uhr morgens fing in meinem Zimmer das Bett an ganz irrsinnig an zu rütteln. Ich sprang auf und nichts wie runter. Vorerst riesige Sprünge in den Mauern. Zum Glück konnten wir mit allen Bewohnern noch rechtzeitig runterrennen, in offenen Höfen uns in Sicherheit bringen. Dann ist alles einfach umgekippt. Man hat Eisen gespart. Und die Fundamente waren ungenügend. Grauenhaft. Einige alte Personen blieben drin und schrien laut. Schliesslich ein riesiger Trümmerhaufen. Das sitzt mir alles noch tief im Genick.
Da hast du deinen Glauben an die Architektur-Theologie - wie du immer sagtest - noch ganz verloren?
--Na hör auf mit dem Spassen. Das galt der Rolle des Architekten als lieber Gott in unserer Gesellschaft. Er spielt den Allmächtigen und Allwissenden.
Ich mag mich erinnern an deine Attacken gegen die post-mittelalterliche Renaissance Rolle des Architekten. Zusammenbruch der mittelalterlich-historistischen Schöpfungsgeschichte. Der Architekt und Künstler vom Format des Lionardo und Michelangelo, sie übernehmen mit der Renaissance in Italien die Rolle des Schöpfers. Die Kunstkritiker übernehmen die Rolle der Hohepriester. Sie formen den Kult der Laien indem sie richten über gut und böse. Purer Mythos hast du immer gesagt. Sie wissen nichts über ihr Fach. Keine Wissenschaft. Sie denken mit dem Bleistift. Design. Imagination ist die Quelle. Auf deutsch heisst das "Ein-Bildung" wohlverstanden.
--Na ja, das waren noch schöne Zeiten.
Es hat manchen eingeleuchtet. Die Kunsthistoriker hätten keine Ahnung von Architektur, sie seien Historiker, wähnten sich Wissenschaftler, obschon die Schrift-Historie nichts oder nur in einem ganz engen Winkel etwas zu tun habe mit Architektur. Vitruv usw. Das sei ein lächerliches Missverständnis. Erstens sei die Architektur zeitlich viel tiefer, man müsse ihr die ganze Menschheitsgeschichte zur Seite stellen. Das ginge in die Millionen von Jahren. Und zweitens betrüge uns der Kunsthistoriker, indem er die Architektur als Hochkultur historisch abhebe von der Tradition, aus der sie eigentlich stamme. Seine Grundlage sei Aesthetik, die ohnehin wissenschaftlich nicht definiert werden könne. Er schaffe sich so einen Freiraum, aus dem er die Welt der Architekten beherrschen könne. Und er lasse die Architekten in einem totalen Freiraum, in dem alles möglich sei, auch wenn es für den Menschen katastrophal herauskomme.
--Ich bin erstaunt, dass du dich nach so vielen Jahren noch an all das erinnerst. Was du am Schluss erwähnst, ist ganz wichtig geworden. Das ist das was mich heute eigentlich im grossen Rahmen beschäftigt.
Die totale Beliebigkeit der post-modernen Architektur?
--Vielleicht, ja. Aber ich würde das ganz anders ausdrücken. Mit der Architektur-Kultur-Hypothese.
Was ist denn das nun schon wieder?
--Dass Architektur, im weitesten und zeitlich tiefsten Sinne verstanden, die Grundlage bildete, auf der sich die menschliche Kultur entwickelte.
Die Architektur von heute wäre ein Splitterprodukt, eine höchst mangelhafte Fehlentwicklung?
--Das kann man so sagen. Was für ein Reduktionismus des Sitzens, ein Breuerstuhl aus der Bauhauszeit! Die ganze Quintessenz des Stahls. Eine höchst fragile Form der ich mich anvertraue, weil ich um diese Neuerung weiss: Stahl und seine Härte wie zähe Flexibilität. Oder das Chaos, das die postmoderne Architektur der Stadt aufzwingt. Aber das trifft nicht nur die Architektur.
Sondern?
--Unsere moderne Welt. Die Kulturtheorie hat die gleichen Probleme wie die Architekturtheorie. Ich kann das am besten mit dem Modell der Hochhäuser ohne Fundament erklären. Unser Weltbild ist wie ein Hochhaus ohne Fundament.
S' ist daran zu kippen und wir merkens nicht?
--So ungefähr. Wir können unsere Hochkulturen, unsere Zivilisationen mit diesen indischen Hochhäusern vergleichen. Wir begründen sie aus sich selber, ohne an die Voraussetzungen zu denken. Plötzlich sind da Pyramiden und Tempel, eine intensive Monumentalität mit Bildern und Schrift, soziale Hierarchien mit Königen und Volk, mit Palastzentren und agraren Dorfschaften, ein grosses Reich, etwa Aegypten entlang des Nils.
Wir bewundern das, nehmen es als Masstab, wissen aber nicht wie es entstanden ist?
--Genau. Die Kulturwissenschaften sind ein Wertsystem, eine Projektion, ja weithin eine Fiktion, die völlig falsche Bilder weckt. Von der Religion her: paradiesisches Leben, mächtig und allwissend sein wie Gott, Geld haben in Fülle um sich alles leisten können wie ein Gott etc.
Dann geht es bei dir also nicht um das CO2 im Klimawechsel?
--Nein, das ist nur eines der äusserlichen Wirkungen. Der eigentliche Grund liegt in unserer falschen Lebenseinstellung, die aber wiederum nicht bloss dem Einzelnen angelastet werden kann. Es liegt an Institutionen, Universitäten, technischen Hochschulen, usw. sie vermitteln Bilder, die das Verhalten steuern und Prozesse nach sich ziehen, die das Ganze, den Globus und das menschliche Leben, wie auch das natürliche Leben, in Gefahr bringen.
Und das hat mit Architektur zu tun?
--Genau.
Aber wie den?
--Du musst die sog. Vorgeschichte, wie sie heute gelehrt wird durch die Evolutionstheorie der Architektur ersetzen, dann wird das sofort klar.
Die Vorgeschichte?
--Ja die Vorgeschichte. Das ist ein purer Historismus. Die Archäologen sind noch vom Mittelalter eingeseift. Sie meinen, sie könnten für die menschliche Vorgeschichte Zeugnissse finden. Aber das ist ja nur Abfall, überdies an die Bedingung der materiellen Dauerhaftigkeit geknüpft. Es scheint, dass die Architektur-Evolution aus fibrokonstruktiven Industrien bestand. Man hatte die Hand als erstes Werkzeug und fibröse Materialien, Schilf, Bambus und dergleichen, als überall verfügbare und leicht manipulierbare Materialien. Binden als Fixierungstechnik. Noch heute sagt man beim Gips oder Beton 'abbinden' wenn er sich verfestigt.
Vorgeschichte verfault, darum nicht greifbar? Also falsche Vorgeschichte?
--Genau.
Was sagtest du, die Hand sei das erste Werkzeug? Tönt ziemlich wild!
--Das ist ein Kick ans Bein der Primatologen, die etwa bei den Schimpansen krampfhaft nach Werkzeugen suchen, weil das als Faustkeile und Pfeilspitzen und so weiter bei den Archäologen eine grosse Rolle spielt. Da denkt natürlich niemand daran, dass das ein Ergebnis der Methode ist. Dauerhaft muss die Sache sein, sonst gibts nichts. Also gleich total: der Mensch als Werkzeugmacher und -Benutzer. Da wird aber dann völlig übersehen, dass alle vier Menschenaffen-Arten routinierte Nestbauer sind. Jeden Tag vor dem Schlafen gehen baut jedes Individuum für sich selber ein Nest.
Jeden Abend? Warum?
--Sie wandern am Tag als Nomaden, verschieben sich ständig, kommen am Abend an einem neuen Ort an. Ganz einfach weil es nicht genügend Futter hat, um am gleichen Ort zu bleiben. Die Gruppen wandern etwa 10 km pro Tag.
Und wo sie dann am Abend ankommen baut man sich ein Nest? Jeder einzeln?
--Jeder einzeln, aber da ist eine Ordnung. Japaner haben das einmal ausgemessen, Pläne gezeichnet von einer nächtlich benutzten Nestgruppe, nachdem die Tiere den Ort verlassen hatten. Das war wie eine Wohnung, oder wie ein Miniatur-Kastell. Zugang, vom Chef-Männchen dominiert, 5 Aussenposten, turmartige Nester auf denen das Aussen kontrolliert wird. Im Zentrum ein Weibchen mit Baby, also in Sicherheit in einem Baumnest. Die andern waren alle Bodennester, eine Art kleiner Türme, mit dem Nest zuoberst, das nach Fertigstellung vom Tier erklettert wird.
Ist mir klar worauf du hinaus willst: Architektur, die erste Architektur. Da sind Dreiecke im Spiel.
--Genau. Statik. Meist sind es natürlich wurzelnde Bambushalme, die so verwendet werden. Oben geknickt, und verwoben, verknotet. Der Knoten ist von den Affen erfunden! Ebenso das stabile Dreieck. Eine feste stabile Konstruktion, die im Raum entsteht. Das beträchtliche Gewicht des Individuums klettert hoch. Die Sache hält.
Und unser Körper trägt noch die Erinnerung an jene Zeit: Armrotation, Präzisionsgriff der Hand, stereoskopes Sehen usw. ?
--Und wohl vor allem das Aufrechtstehen. Vor einigen Millionen Jahren hat sich das Klima in Afrika ziemlich stark verändert. Die Tropenwälder wurden zurückgedrängt. Savannen machten sich breit. Da wurden die Bodennester, also die Türme mit Bambus und dergleichen, populär. Da war begünstigt, wer auf zwei Beinen die Sache schnell im Lot hatte.
Das Nest hat den Menschen aufgerichtet. Macht Sinn. Täglich geübt! Aber wie wars dann mit dem Baumnest?
--Das war mehr konstruktive Vorübung. Immerhin wohl seit 22 Millionen Jahren, ist es mit den grossen Affen entstanden: man musste nachts liegen aus physiologischen Gründen. Körpergrösse. Aber die Statik wird vom Baumstamm geliefert. Das Nest wird auf starken Seitenästen gemacht, dann mit Zweigen und Blättern ausgepolstert. Das Ganze dauert bei einem geübten Tier etwa 2-3 Minuten.
Die Sache ist gelernt?
--Genau. Die Mutter ist die Lehrerin. Sie hält die Babys an mit kleinen Pseudo-Nestern zu spielen, wobei die Sache gelernt wird.
Und all das sehen die Primatologen nicht?
--Es gab mal welche, die sagten, damit hat das konstruktive Verhalten des Menschen angefangen. Yerkes hiessen die. Ein Primatologen-Ehepaar. Schrieben ein dickes Buch über die Menschenaffen. Trugen alles zusammen, was man damals wusste. Das ist aber untergegangen. Heute spielt es keine Rolle mehr in der Primatologie. Nesterbauen wird als soziales Verhalten eingestuft. Völliger Un-Sinn. Ich hab mal ausgerechnet, was das quantitativ bedeutet.
Quantitativ? Was soll das?
--Wenn man alle Nester eins aufs andere hochstapelt, also was ein einzelnes Individuum während seinem etwa 45 jährigen Leben so baut mit seinen Händen, dann bekommt man einen Turm etwa 11 mal so hoch wie der Eiffelturm in Paris.
Bist du verrückt?
--Nein, überhaupt nicht. Kannst das nachrechnen. 45 mal 365 mal Nesthöhe etwa 30-40 cm Höhe pro Nest. Etwa 1 Meter Durchmesser. Wohlverstanden, das bezieht sich auf die Baumnester.
Und das sehen die ganz einfach nicht?
--Nein. Das Absurde: die werden für ihr aufwendiges Studieren von Nüsschen knackenden und Ameisen fischenden Schimpansen, also fürs Beobachten des Werkzeugverhaltens noch fürstlich bezahlt...Hübsche Urwaldreisen.
Unglaublich.
--Doch, zurück zum Verhältnis von Geschichte und Vorgeschichte. Dort liegt der Has im Pfeffer.
Da komm ich nicht mit.
--Na warte schon. Wir haben also zwei grundsätzliche Positionen. Zum einen das, was uns die Historiker sagen, indem sie sich auf die Entstehung der Zivilisationen stützen. Der Mensch wurde von einem höheren Wesen in die Welt gesetzt. Er hat Sprache, Denkfähigkeit, hohe Kultur um diese Welt der Pflanzen und Tiere zu beherrschen, sie sich untertan zu machen.
Die andere Position, wesentlich von Darwin in die Welt gesetzt, besagt, der Mensch ist eine Entwicklung der Natur. Wir wissen zwar noch nicht klar, wie es zu dieser Hochform gekommen ist, doch deutet einiges darauf hin, etwa der durch die Genforschung belegte hohe Verwandschaftsgrad mit den Menschenaffen.
--Genau. Das Problem liegt aber daran, dass diese Erklärungsversuche alle wesentlich von den Naturwissenschaften getragen sind, inklusive Darwin. Das ist sein grosses Handicap: Seine Evolutionstheorie sagt uns praktisch nichts über die kulturelle Verwandschaft zwischen Menschenaffen und Mensch.
Jetzt hab ich es geschnappt: du willst die offizielle Vorgeschichte unter den Teppich kehren und deine Version in die Lücke schieben.
--Besser hättest du das nicht sagen können. Der Brückenschlag von Natur zu Kultur musste auf einer ganz anderen Ebene vor sich gehen, auf der Ebene der Kultur. Doch, bis heute ist diese Brücke noch nicht gefunden.
Die Archäologie ist ein Anklammern an die historische Methode?
--Ja, ich glaube das ist ein Relikt aus dem Mittlalter. Hart gemeisselt in diesen Köpfen. Die Wahrheit muss objektiv historisch nachweisbar sein. Das ist aber ein Unsinn.
Du hast Recht. Die Archäologie ist eine völlig dilettantische Erfindung eines jungen unbelasteten Dänen, der im Museumskeller alles was Eisen war in eine Ecke schob, Eisenzeit, alles was aus Stein war, in die andere: Steinzeit, auf dieser Ebene etwa. Und das hat sich gehalten bis heute, in mittelalterlich imprägnierten Archäologen-Köpfen.
--Was du eben geschildert hast, ist sehr wichtig. Viele Kriterien lassen sich mit dieser Methode nicht abbilden. Etwa die Tektonik unserer Sachkultur allgemein und global. Oder etwa die Bedeutung des Pflanzenornaments. Schon der Begriff Ornament ist eine kunsthistorische Projektion. Verschönern? Was soll das? Der Mensch ein Verschönerer, Ein Dekorateur? Warum ist das schön? Ist das Pflanzenornament vielleicht ein Relikt und wird deshalb als wertvoll empfunden? Gab es eine fibröse Pflanzenzeit, die aber verschwunden ist, weil sie materiell nicht dauerhaft war?
Wenn es sie gab, was sollen wir tun?
--Vorerst einmal, uns so verhalten als wäre es eine Möglichkeit, als hätte es sie potentiell gegeben.
Das heisst alles Material zusammentragen, das die Hypothese stützt?
--Ja, genau. Das ist schon ein riesiger Schritt. Tectiformes im Paläolithikum. Metallzeitliche Lebensbäume mit ihren endlosen Andeutungen von Knoten und anderen künstlichen Elementen. Alles was mit Pflanzenornamenten zu tun hat, auch Kapitelle von Säulen inbegriffen.
Und dann fangen wir an, dieses Material zu deuten?
--Ja. Hypothetisch. Indem wir annehmen, sie wären eine Umsetzung von primären Formen. Wir müssen uns auch um diese kümmern, insofern als sie noch traditionell lebendig sind in der Ethnologie, unter traditionellen Gesellschaften.
Du gibst die strikte Trennung der Fächer auf. Hie Vorgeschichte, hie Geschichte, hie Volkskunde und Ethnologie. Also die zeitlich bestimmten Fächer, da kümmerst du dich nicht darum?
--Nein. Systematische Einstellung. Wenn wir mit einer Kulturentwicklung von rund 20 Millionen rechnen, dann ist es Unsinn, die Ethnologie abzutrennen von der Geschichte oder von der Vorgeschichte mit ihren paar Tausend Jahren. Anthropologische Definition der Sachkultur.
Wow. Das ist ja wohl ziemlich frech!
--Gar nicht. Gordon Childe hat das schon lange gesehen. Dass die Archäologie mit ihrer Abfall-Perspektive in Sachen Kultur, auch wenn noch so ursprünglich - zwangsläufig zu kurz kommt. Sie kann nur mit den anderen Disziplinen gemeinsam sinnvolle Resultate erzielen.
Die fibrokonstruktive Kultur wie du sie nennst, konnte sich also nur in der Ethnologie resp. der Volkskunde faktisch und objektiv im primären Zustand traditionell erhalten.
--Ja, da kommt ein weiteres Problem hinein, die Tradition, insbesondere die objektive Tradition. Wenn wir davon ausgehen, dass die höheren Menschenaffen in all ihren Ausformungen das Nestbauverhalten so um die 20 Millionen Jahre traditionell erhalten und entwickelt hätten, dann hätten wir einigen Grund, uns nicht nur für objektive Abfälle zu interessieren, sondern uns vermehrt auch um Hand-Werk-liche Traditionen zu kümmern. Dort entgeht uns vieles, das uns zu einem besseren Verständnis der Kultur-Entwicklung führen könnte.
Zum Beispiel?
--Das sind vor allem das was ich 'semantische Architektur' nenne. Das figuriert in der Archäologie völlig falsch von historischen Quellen her als 'Lebensbäume' klassifizierte Gruppe. In der Volkskunde fallen die Maibäume und entsprechende pflanzliche Festkonstruktionen dazu. Das sind Zeugnisse einer vergangenen Agrarkultur! In den elaborierten Formen, in denen sie sich in ruralen Gebieten zeigen, könnnen wir annehmen, dass sie mindestens bis zum Neolithikum zurückreichen. Jeder der einigermassen etwas versteht vom Konstruieren, vom Binden von Halmen, vom elementaren Hand-Werk, dem leuchtet sofort ein, dass es sich in diesen Dingen um etwas sehr Altes handeln muss, auch wenn wir Zeugnisse physisch nicht nachweisen können.
Sagen wir es doch klar hinaus: du meinst, dass sich die gegenwärtige Vorgeschichte durch eine fibrokonstruktive Kulturgeschichte ersetzen liesse, und dass sich so die Entwicklung der Kultur auf neue Art und ganz anders verstehen liesse.
--Wenn du schon so mit der Tür ins Haus fällst: ich wollte nicht brutal sein, ich habe das wichtigste Element vorerst nicht erwähnt. Mindestens so wichtig wie die Lebensbäume und die Maibäume sind das, was die christlichen Missionare über Jahrhunderte in der ganzen Welt als Fetische, Geisterhüttchen, Göttersitze usw. entdeckten und beschrieben haben. Natürlich haben sie die Sache nie wirklich untersucht. Sie benutzten das Phänomen als Indikator für das was man ihnen schon zu Hause in ihre Köpfe gesetzt hatte: dass ihre Mission darin bestehe auf der ganzen Welt die 'primitive Religion' auszumerzen, sie durch den Glauben an die christliche Lehre zu ersetzen. So nahmen sie diese fibrokonstruktiven Konstruktionen, die mit dem Heiligen, dem Magischen, dem Polytheismus oder was sonst auch immer im Verhältnis standen, als Indiz für eben diesen primitiven Glauben, den sie ausmerzen wollten. Da lernt mal erst lesen, hier ist das Büchlein, werdet vorerst mal richtige Menschen usw.
Na gut, diese Geschichte kennt man ja. Brauchst dich da nicht aufzuregen.
--Es geht nicht um diese Geschichte, es geht um den gigantischen Irrtum, der damit zusammenhängt. Diese Fetische waren der Ursprung der Kultur, der Menschwerdung, der primären Aesthetik, der harmonischen Weltbetrachtung à la YinYang, à la Ma'at im Alten Aegypten, à la Om im alten Indien, à la hohe und tiefe Töne der Melodie bei Heraklit, à la Apollon und Dionysos nach Nietzsche, à la 'coincidentia oppositorum im europäischen Mittelalter.
Jetzt ist dir aber offensichtlich eine Sicherung durchgebrannt! Du willst die die ganze Welt deinen Fetischen unterjubeln!
--Ja, genau das meine ich.
Töggeli aus dem Baukasten der Naturwissenschaften. Alles Leben auf Erden ist aus Zellen aufgebaut. Und damit basta.
--Ja, warum nicht? Warum soll Kultur nicht ähnlich strukturiert sein? Dass sie irgendwo einen gemeinsamen Ursprungspunkt aufweist, der allen Kulturen, allen Kultur-Phänomenen gemeinsam ist?
Tut mir leid, aber damit überforderst du mich, mein ganzes Wissenschaftsverständnis sträubt sich dagegen.
--Na jetzt hör mal. Vorerst glaube ich bist du ein Opfer unserer differenzierenden Kulturbeschreibung. Sprachen verschieden, somit Kulturen verschieden. Nur selten wurde das Gleiche in verschiedenen Kulturen gesucht.
Da gebe ich dir Recht. Das sitzt tief in unseren Gehirnen.
--Eben habe ich dir angedeutet, dass in allen Altkulturen Polarität, also YinYang-ähnliches Denken bekannt und sehr wahrscheinlich weit verbreitet war. Das ist zwar nur punktuell, aber immerhin, ganze Länder wurden wie etwa Altägypten gegensätzlich geteilt verstanden. Wir können daraus die Hypothese ableiten, dass Polarität in diesem Sinne das primäre Erkenntnissystem gewesen wäre. Alles wird harmonisch strukturiert. Der Mensch! Es würde uns vieles in der Kleidung erklären, bei vielen und sehr verschiedenen Kulturen. Etwa die Interpretation des menschlichen Körpers. Arm-, Hals- und Beinspangen und Ketten, die Kronen aller Art. Bewegliche Finger und kompakter Arm, Haare gewellt und klare Kopf-Form, Beweglicher Kopf über Hals und Brust, Ober- und Unterkörper usw.
Ja, da ist vielleicht etwas dran. Man müsste das einmal weltweit dokumentieren.
--Es geht auch in die Begrifflichkeit für Sexualunterschiede unter Menschen und Tieren hinein. Die natürliche Sexualitätsdifferenzen sind wohl gleichsam wie eine Bestätigung für die von Kulturobjekten abgeleitete 'Theorie'.
Machen wir die Sache kurz: du willst also eine Grundschicht menschlichen Erkennens und Denkens von deinen Fetischen ableiten: polar-harmonisches Denken, polare Analogie. X und Y sozusagen. Die beiden sind gleich insofern man sie als Hütte und Säule ansieht, bei denen der obere Teil ausgreifend - und wohl auch beweglich erscheint.
--Tolles Beispiel: die XY Theorie. Ich habe das mal beschrieben als Kerze und Blumenstrauss im Verhältnis zum Gegensatz 'Küche mit Neonlicht' zum einen und 'Festtagstisch mit Kerzenbeleuchtung' zum andern. Im letzteren Fall alles polar strukturiert! Zwei Welten! Man begreift sofort was gemeint ist: der Festtagstisch strömt ein Glück aus, das aus diesem alten harmonischen Denken sich in unsere Zeit hat retten können.
Die Primitivisierungen der Kulturforschungen sind somit Quark!
--Ich glaube schon. Man hat immer jeweils in den in einer Zeit zur Verfügung stehenden Bedingungen gelebt. Was uns die Tradition solcher Agrar-Feste in Europa und in Asien, etwa in Japan heute noch zu vermitteln vermag: dass diese harmonische Grundschicht des Denkens mit ihrem engen Bezug auf eine jeweils begrenzte Lebenswelt eine wohl glücklichere Welt war als die in allen Richtungen zerrissene und im Grunde menschlich unangepasste Welt von heute.
Auch damit habe ich ehrlich gesagt Mühe. Aber immerhin, deine These ist interessant.
--Ich kann mir jedenfalls sehr viele kulturelle Fragen auf neue Art erklären. Die Sache macht Sinn. Etwa dass Kunst, im Sinne von kategorialer Polaritat eine wichtige Rolle spielte, gleichsam den "Schöpfer" für die menschliche Welt bildete, finde ich wichtig. Unsere moderne, verzweifelt suchende Kunst erscheint von daher wie eine echte Suche nach den Ursprüngen, ohne diese jedoch zu finden.
Und Religion? Wie entsteht Religion in deinem Konzept?
--Im Zuge der frühen Reichsbildung werden mit den grösseren Territorien, die von Demarkationen, also den Tempeln mit ihren Göttern bezeichnet werden auch die Polaritäten zusehends räumlich extensiv interpretiert. Man kann dies das Echnaton Syndrom nennen. Plötzlich wird das PRO der polaren Form auf die Planeten projiziert. Aton, die Sonne wird zum dynamischen Gegenstück zum Tempel. Später wächst sich das aus, diffus ins Kosmische, ins Weltall, das ganze Universum tritt bezüglich Religion und Monotheismus in Dialog mit der religiösen Welt auf der Erde. Urbi et orbi. Theokratische Reichsvorstellungen der Antike werden zur Weltreligion ummontiert. Heute sind die Religionen alle auf das Universum fokussiert. Aber der Ursprung liegt in der Territorialgeschichte.
Dann sind auch die sozialen Rollen, die Pharaonen, die Könige und Kaiser auf dein Fetischbild bezogen?
--Natürlich. Sie sind von den ursprünglichen Dorfgründern abgeleitet. In dieser elementaren Form machte das Sinn. Mehr und mehr wurde Macht daraus. Die genetischen Ableitungen wurden durch Mythen in die zeitliche Tiefe meist fiktiv überdehnt. Das Volk glaubte daran und opferte den Göttern. Das politische System funktionierte.
Was mir einleuchtet an der Sache ist der Umstand, dass dein Ansatz sich immer bloss auf Kulturleistungen bezieht. Nicht wie in der Religion, wo 4-5000 jährige Kultur- oder Zivilisationsverhältnisse mit Zeitdimensionen der Natur von 13 Milliarden Jahren vermengt werden und dadurch im heutigen wissenschaftlichen Denken ihren Realitätsanspruch zusehends verlieren.
--Wie gesagt, das Thema 'Schöpfung' bedeutete in der antiken Zeit Siedlungsgründung, Stadtgründung, Reichsgründung usw. Was uns heute - wegen der religiösen Götter-Interpretation - wissenschaftlich fehlt, ist die Vorstellung, dass Götter in den neolithisch-metallzeitlichen Dorfkulturen territoriale Demarkationen - notabene fibrokonstruktiver Art - waren.
Vom dörflich-neolithischen Monotheismus zum staatlichen Monotheismus?
--Phantastisch! Du hast den Fehler durchschaut! Das war kein Umbruch, sondern Kontinuität! Die Aegyptologie nach 1930 wurde sich, beeinflusst durch Frazers 'Golden Bough', dessen bewusst und hat intensiv die vor- und frühdynastischen Dorfkulturen untersucht und daraus, vor allem mit Sethe und Kees die Kulte der Dorfkulturen als primäre Territorialverfassungen rekonstruiert. Heute ist Jan Assmann als Aegyptologe wieder in die Forschung des 19. Jahrhunderts zurückgefallen. Er spricht von primitiver Religion und Idolatrie. Unglaublich!
Wo führt das hin, diese Weltsicht?
--In eine neue aesthetische Welt. Eine Welt, die sich bewusst ist, dass Kultur eine Leistung ist von endlosen Schöpfern und Künstlern. Ein Glaskelch welch wunderbar funkelnde Glasarchitektur, aus der ich meinen Wein trinke. Fällt das Glas um: Weltuntergang!
In dieser Welt der harmonischen Künstler aus dem Dunkel der menschlichen Tradition ist zum Beispiel Zaha Hadid mit ihren selbstbezogenen Architektur-Geschwüren ein Fremdkörper?
--Ein absoluter Fremdkörper. Ihre Architektur ist Ausdruck eines Schwamms, der aufsaugt, was gerade um ihn rum fliesst. Astronautengebilde, die Neo-Moderne vormachen wollen, indem sie sich formal absolut dynamisch geben. Dann hat dieser Schwamm noch die Arroganz solche Geschwüre in alte Stadtkerne abzusetzen.
Untergangsanfang?
--Etwa so, ja. Zaha Hadid ist hier nur ein Beispiel. Es gäbe Hunderte, nicht minder peinlich.
Wohin zeigt der rechte Weg?
--Forschung. Die Architekten müssen ihre eigene Forschung aufziehen. In der Medizin - ich sage es jetzt etwas übertrieben - da gehen von 100 ausgebildeten Ärzten mindestens die Hälfte in die Forschung. Chirurgie, Pharmazeutik, Anatomie, usw. Das Fach ist gross geworden, weil es seit einigen Hundert Jahren eine intensive Forschung entwickelt hat.
Die Architektur hat keine Forschung. Von 100 ausgebildeten Architekten gehen 100 in die Praxis, üben Design, Imagination, das heisst Einbildung. Die Forschung überlässt man den Kunsthistorikern, die Historiker sind. Sie haben keinen Sinn für das Tektonische. Sie sind es auch, die das Fach am glitschigen Boden der eurozentrischen Aesthetik halten. Subjektiver Gusto. So kann man alles und nichts sagen und der sogenannte Laie hält es überdies für Wissenschaft.
Architektur und Habitat-Anthropologie also?
--In etwa, ja.
Wollen wirs heute da belassen?
--Vielleicht, ja.
Vielleicht sehen wir uns nächste Woche wieder, am Vortrag im Architekturforum?
--Das ist eine gute Idee. Ich hatte vor hinzugehen. Jetzt gehe ich bestimmt. Bis dann.
Bis dann, tschüss.
--Tschüss, auf bald.